
Agil bleiben: Radikal ehrliche Wahrheiten über Veränderung, die niemand sehen will
Scrum ist wie Ihre Schwiegermutter, es zeigt Ihnen alle Ihre Fehler auf.
Ken Schwaber
Wenn sich nichts ändern darf, wird Agilität zum Etikettenschwindel
Wer heute ein Unternehmen führt, kommt an einem Begriff nicht vorbei: Agil. Agil arbeiten, agil führen, agil entwickeln. Auf Konferenzen klingt das nach Flowcharts, Post-it-Wänden und schnellen Sprints. In der Realität aber bedeutet es: Wieder und wieder gegen alte Muster ankämpfen, auch wenn es unbequem ist. Und dabei die eigene Organisation nicht verlieren – sondern gemeinsam mit ihr wachsen.
Viele Unternehmen starten mutig in einen Veränderungsprozess. Sie holen Berater:innen ins Haus, initiieren Workshops, führen neue Tools ein. Der erste Sprint läuft noch unter Applaus. Doch was passiert nach drei Wochen? Nach drei Monaten?
Wer Agilität ernst meint, lernt: Der wahre Wandel beginnt nicht mit dem Kick-off. Sondern mit dem Widerstand danach.
Bei den Strukturpiloten arbeiten wir regelmäßig mit Teams, die genau hier stehen: irgendwo zwischen Aufbruch und Rückfall. Sie haben erkannt, dass die gewohnte Art zu arbeiten an ihre Grenzen stößt – und suchen einen neuen Rahmen, der ihnen erlaubt, zukunftsfähig zu bleiben. Doch Messbarkeit, Tools und Methoden reichen allein nicht.
Agil sein ist leicht. Agil bleiben ist eine Haltung. Und die wächst nicht auf Folien, sondern in der Realität – dort, wo keiner klatscht.
Agilität ist kein Event, sondern ein System
Wenn Unternehmen von Agilität sprechen, meinen sie oft das sichtbare Drumherum: Daily Stand-ups, Retrospektiven, Kanban-Boards. Das wirkt neu, das fühlt sich modern an. Aber hinter diesen Formaten steckt ein kulturelles Betriebssystem. Eines, das nicht mit einem offiziellen „Go live“ seinen Dienst aufnimmt – sondern Tag für Tag erarbeitet wird.
Der agile Wandel hat keinen Konfettimoment. Er hat Schmerzpunkte. Unsicherheit. Widersprüche. Denn anders zu arbeiten heißt immer auch: Bekanntes loslassen. Und das ist schwer. Es heißt auch: sich selbst reflektieren, bis es wehtut. Das ist nicht leicht und jeder Mensch hat einen ganz natürlichen Schutzmechanismus, der erstmal überwunden werden muss. Schneller Aktionismus, große Wörter und Sachen, die man in den Kalender schreiben kann, haben eins gemeinsam: Sie haben eine tiefe, echte Erfüllung, geben uns den Dopaminstoß, den wir eben regelmäßig brauchen. Anders ist es mit zähen, klitzekleinen, mühsamen Veränderungen in unserem Handeln.
Es braucht daher ein System, das Veränderung nicht nur zulässt, sondern dauerhaft trägt. Bestehend aus klaren Führungsrollen, aus Fehlerfreundlichkeit, aus transparenten Feedbackschleifen. Erst dann wird der agile Anspruch zur gelebten Realität – nicht zur Inszenierung.
Beispiel: Zwei Teams, zwei Kulturen
In einem unserer Mandate begleiteten wir zwei Teams desselben Unternehmens beim Übergang in eine agile Arbeitsweise. Beide erhielten dieselben Tools, dieselben Workshops, dieselben Rahmenbedingungen.
Team A nutzte die Retrospektive zur echten Selbstreflexion. Konflikte wurden nicht ausgesessen, sondern benannt – zunächst holprig, aber ehrlich. Alle bewiesen Mut und sprangen nicht nur einmal über ihren Schatten. Ergebnisse wurden iterativ angepasst und Umsetzungen wurden getrackt und verfolgt. Team B hingegen machte alles „by the book“, aber ohne Substanz: Meetings wurden pro forma abgehalten, Kritik vermieden. Man druckste herum und entschied sich im Zweifel, da „in Zukufnt drüber zu sprechen“. Nach vier Monaten war klar: Agilität war im einen Team angekommen, im anderen nur angetäuscht.
Was hatte Team A anders gemacht? Es hatte verstanden, dass Agilität keine neue Verpackung für alte Muster ist, sondern ein verändertes Zusammenspiel von Verantwortung, Vertrauen und Entscheidungskompetenz.
Umlernen ist anstrengender als Neulernen
Wer eine neue Sprache lernt, beginnt bei null. Wer seine alte verlernen will, kämpft gegen Automatisierung. Dasselbe passiert in Organisationen.
Viele Unternehmen unterschätzen, wie tief alte Arbeitsmuster verwurzelt sind. Jahrzehntelang eingeübte Reaktionen – etwa auf Fehler, auf Deadlines, auf Hierarchien – verschwinden nicht durch einen agilen Workshop. Sie leben weiter. Subtil, aber bestimmend.
Agil arbeiten heißt deshalb nicht nur, Neues zu lernen – sondern Altes zu verlernen. Und das verlangt Energie. Mehr Energie, als die meisten für möglich halten. Das passiert auch nicht, wenn es nicht explizit adressiert und forciert wird. Alte Muster zu durchbrechen ist eine der schwierigsten Aufgaben (und Grund dafür, wieso sich in manchen Unternehmen Strukturen aus dem vorletzten Jahrhundert halten).
Beispiel: Montagvormittag am Kopierer...
Ein Kunde stellte auf iterative Projektzyklen um. Was in Schulungen klar erschien, scheiterte im Alltag an einer unsichtbaren Kraft: den Reflexen der Mitarbeitenden. Am Montagmorgen, beim informellen Austausch am Kopierer, wurde über „die neue Methode“ gespottet. In Meetings fielen Aussagen wie „Das funktioniert hier eh nicht“ oder „Früher war das einfacher“. Führungskräfte schwiegen – oft aus Sorge, als Gegner statt Ermöglicher dazustehen. Ganz großartig ist hierfür auch ein Beispiel, das ein Arbeitskollege mir neulich erzählte: Aufgrund einer neuen Automatisierung scheiterte, weil ein Formular nicht mehr von oben nach unten bearbeitet wurde, sondern eine Excel-Tabelle von links nach rechts.
Was hilft da? Zuhören. Nicht mit starrer Methodentreue reagieren, sondern die Unsicherheit dahinter ernst nehmen. Agilität bedeutet: Unsicherheit, Widerstand wahrnehmen und auffangen. In einem strukturierten Prozess wurde Raum für Zweifel geschaffen. Aber auch für die Frage: Was hindert uns eigentlich am Umlernen? Der Wandel nahm erst an Fahrt auf, als dieser innere Dialog begann – und nicht, als das Kanban-Board installiert wurde.
Der entscheidende Moment passiert, wenn keiner hinsieht
Alle reden über den Projektstart, die Planung, das große Ziel. Doch der wichtigste Teil jeder Veränderung passiert dazwischen: in den Mikroentscheidungen des Alltags.
Nicht in Workshops. Nicht in Präsentationen. Sondern auf der Baustelle des Gewöhnlichen. Genau dort entscheidet sich, ob Führungskräfte wirklich zuhören, ob Mitarbeitende sich gegenseitig Feedback geben, ob Entscheidungen dezentral getroffen werden können – oder ob alle wieder ins alte Fahrwasser rutschen.
Das ist der Moment, in dem sich zeigt, ob eine Organisation eine Methode anwendet – oder eine Haltung entwickelt hat. Agilität bedeutet, die Situationen zu reflektieren, in denen man sich nicht besonders anstrengt, agil zu sein. Dann zeigen sich versteckte Blockaden.
Beispiel: Haltung statt Theater
Ein mittelständischer Betrieb aus dem Handwerk hatte sich „agil“ auf die Fahnen geschrieben. Alles lief nach Plan – bis zu dem Tag, an dem eine Führungskraft ein wichtiges Projekt kurzerhand entschied, ohne die Betroffenen einzubeziehen. Der Grund: Es war eiliger als erwartet.
In der anschließenden Retrospektive kam der Bruch zur Sprache. Und statt zu rechtfertigen, sagte die Führungskraft: „Ihr habt recht. Ich bin in mein altes Muster gefallen. Lasst uns schauen, wie wir beim nächsten Mal anders reagieren.“
Das war kein PR-Moment. Kein Blogbeitrag würdig. Aber für das Team war es der Beweis: Hier meint es jemand ernst mit dem Neuen. Und das verändert mehr als jede Methodenschulung.
Agilität beginnt dort, wo Applaus endet
Veränderungsprozesse verlaufen selten wie geplant – und noch seltener linear. Wer agil bleiben will, braucht mehr als Tools, Charts und Change-Pläne. Er braucht Geduld, Ehrlichkeit und die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen. Immer wieder.
Als Strukturpiloten begegnen wir Unternehmen nicht mit fertigen Antworten, sondern mit einem Prinzip, das wir teilen: nachhaltige Veränderung ist keine Dienstleistung, sondern ein gemeinsames Ringen. Sie passiert dort, wo Menschen sich zeigen – nicht wo sie glänzen. Wir gehen ganz bewusst ohne die ganzen Buzzwords in die Arbeit, denn dann gibt es weniger, woran man sich festklammern kann. Es führt auch dazu, dass eines entsteht, was wir auf jeden Fall brauchen: Unsicherheit. Ein großer Teil von Veränderung ist die Antwort auf die Frage: Wie geht ihr eigentlich (systemisch) mit eurer Unsicherheit um? Das üben wir dann gemeinsam. Und wachsen daran.
Wir bleiben, bis das System tragen kann. Nicht weil wir müssen. Sondern weil wir wissen: Die schwierigsten Transformationen sind oft die lohnendsten.
Denn echte Bewegung – beginnt im Kleinen.